Wie Wohnzimmerlehrer Schülern helfen
Anke Biedenkapp unterrichtet zu Hause ehrenamtlich drei ghanaische JungenVon Johanna Stein
Ein Durcheinander aus Zetteln, Stiften und Schulheften bedeckt den Tisch im Wohnzimmer von Anke Biedenkapp. Der neunjährige Michael grübelt über seinen Deutschaufgaben. Martin und Michaels großer Bruder Edwin, beide zwölf Jahre alt, gehen mit Biedenkapp ihre Ergebnisse durch. „Was ist deine Antwort bei dieser Aufgabe?“, fragt die Nachhilfelehrerin. „Laufen, er lauft“, sagt Martin etwas unsicher, und auf Biedenkapps Nachfrage ergänzt Edwin: „Mit ä!“
Biedenkapp engagiert sich ehrenamtlich als Wohnzimmerlehrerin. Dieses Projekt hat die Nina-Dieckmann-Stiftung vor elf Jahren ins Leben gerufen, das Nachhilfeangebot richtet sich vor allem an Kinder aus Migrantenfamilien. Gut 30 Schüler in der Region erhalten so derzeit Unterstützung bei den Hausaufgaben, hinzu kommen weitere Projekte wie Sprachkurse an Grundschulen und Musikangebote für Kita-Kinder. Über die Stiftung engagieren sich neben ehrenamtlichen Lehrern und Laien auch gut 50 Pädagogen als Honorarkräfte.
Corona offenbart Ungleichheit
In der Corona-Krise ist die Unterstützung nötiger denn je. Denn Edwin, Michael und Martin sind erst vor wenigen Jahren mit ihren Familien aus Ghana nach Deutschland gekommen. Ihre Eltern sprechen nicht gut genug Deutsch, um bei den Hausaufgaben zu helfen. „Die Kinder sind sowieso schon zurückgeworfen in der Schule“, sagt Biedenkapp, die der Ungleichheit beim Thema Homeschooling entgegenwirken will.
Statt einmal pro Woche – wie vor der Pandemie – betreut sie die Kinder nun fünfmal in der Woche, je vier Stunden in ihrem Wohnzimmer in Linden. Weiterhin ehrenamtlich. Gemeinsam üben sie lesen, schreiben und Grammatik. Wenn die Jungen Fragen haben, kann Biedenkapp ganz praktisch helfen. Als Edwin Wörter mit dem Laut „chs“ übt und über das Wort Büchse stolpert, holt sie einfach eine Büchse aus der Küche. Und als die Kinder einen Text über die Schule von früher lesen, zeigt sie ihnen eine Schiefertafel.
Nachhilfe mit Maske
Sie habe zwar nicht damit gerechnet, dass die Schulen so lange geschlossen bleiben. „Aber ich ziehe das jetzt durch“, sagt sie zuversichtlich. „Wenn wir die Kinder jetzt sich selbst überlassen, ist das ein Drama.“ Angst, dass sie sich bei ihren Schützlingen mit dem Coronavirus anstecken könnte, hat Biedenkapp nicht so sehr. Sie achte darauf, dass die Jungen Hände waschen und Masken tragen – auch wenn diese den Kindern etwas zu groß sind und schnell verrutschen. „Aber ich hoffe auf meine medizinische Konstitution – und aufs Schicksal“, sagt Biedenkapp.
Vor der Corona-Krise sah der Alltag der Wohnzimmerlehrerin noch etwas anders aus. Denn eigentlich betreut sie nur Edwin – „eins zu eins funktioniert das am besten“, sagt sie. Neben der Hausaufgabenhilfe haben die beiden auch viele Ausflüge unternommen, ins Kino und Theater etwa oder einfach auf Erkundungstour durch den Stadtteil. Seit der ersten Klasse betreut sie Edwin, heute ist er in der fünften Klasse.
Weitere Helfer willkommen
Fast hätte Biedenkapp nicht nur im Wohnzimmer, sondern auch im Klassenraum unterrichtet. Vor rund 30 Jahren zog sie für das Referendariat nach Hannover, Spanisch und Geschichte auf Gymnasiallehramt. Doch dann gründete sie Stattreisen Hannover und organisierte 20 Jahre lang den Reisepavillon, eine Plattform für nachhaltigen Tourismus. Heute ist sie Geschäftsführerin von Global Partnership Hannover – und eben Edwins, Michaels und Martins persönliche Wohnzimmerlehrerin. „Aber ich allein kann keine ganz Grundschulgeneration auffangen“, sagt Biedenkapp. Daher hoffe sie, dass sich weitere Unterstützer bei der Nina-Dieckmann-Stiftung melden. „Wir haben ja auch alle etwas von der Integration.“
HAZ vom 16.05.2020